Nach einem anstrengenden Tag bei Gericht gönnte sich Justitia zur Erholung einen langen Waldspaziergang. Müde zog sie mit der linken Hand ihr altes rostiges Schwert und die angestaubte Waage hinter sich her. In der Rechten hielt sie ihren Blindenstock und tastete sich damit langsam voran. Dabei ging sie im Geiste die heutigen Fälle durch. Hoffentlich hatte sie richtig entschieden, als sie dem Richter die Urteile einflüsterte… Justitia war ausserordentlich gewissenhaft und das war nicht immer leicht. Schließlich konnte sie ja nichts sehen und musste sich ganz auf ihr Gehör verlassen. Und das war auch nicht mehr das beste…
Während sie so ihren Gedanken nachhing, hörte sie plötzlich eine fröhliche Stimme: „Hallo Justitia, wie geht’s uns denn heute?“ „Oh nein, nicht der schon wieder“, fuhr es Justitia durch den Kopf. Sie hob ihre wohlgeformte römische Nase und schnupperte. Richtig, da lag ein leichter Schwefelgeruch in der Luft. Der Teufel, wer sonst. Justitia seufzte. Das ging nun schon seit Monaten so, obwohl sie die Route täglich änderte.
„Was willst du?“ knurrte sie. „Warum so gereizt“, trällerte der Teufel, „ich dachte, wir könnten ein Stück zusammen gehen?“ „Nö“, erwiderte Justitia und bemühte sich, möglichst unfreundlich zu klingen. Das alte Plappermaul war das letzte, nach dem ihr jetzt der Sinn stand. „Schön, dass du dich freust“, säuselte der Teufel und hakte sich bei Justitia unter, während er ihr den Blindenstock aus der Hand nahm. „Den brauchen wir ja jetzt nicht, ich führe dich“, schmeichelte er. Justitia war zu müde, um etwas zu erwidern. Sicher wollte er sie wieder nach spektakulären Urteilen aushorchen…
Aber der Teufel hatte anderes im Sinn. „Was für ein herrlicher Frühlingstag“, zwitscherte er, „wenn du das nur sehen könntest!“ „Hhm…“, brummte Justitia. „Nimm doch mal kurz die Augenbinde ab, sieh nur, ein Rotkehlchen! Wie entzückend!“
„Nein“, sagte sie entschieden und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn, „die ist noch von Platon!“ Der Teufel seufzte hörbar. „Aber Justitia, Liebes, du musst allmählich den Tatsachen ins Auge blicken sozusagen! Platon ist nun schon zweieinhalb Jahrtausende tot…“ Justitia kam ins Schwärmen. „Er hat gesagt, ich darf die Augenbinde niemals abnehmen, damit ich ohne Ansehen der Person urteilen kann. Ganze Werke hat er über mich geschrieben. Wir hätten eine platonische Liebe, sagte er…“
Der Teufel blickte gelangweilt auf seine langen Krallen. „Aber Justitia, stell dir vor, wie schnell du deine Urteile fällen könntest, wenn du sehen würdest!“ „Wieso?“ knurrte Justitia misstrauisch. „Na, du könntest doch sehen, wer vor Gericht die meisten Freunde hat. Nur ein guter Mensch hat viele Freunde, das liegt auf der Hand, oder? Hier ein freundliches Nicken des Richters zu einem Zeugen, dort ein Augenzwinkern zu einem Anwalt… So eine intelligente Frau wie du sieht das doch sofort“, schmeichelte er. „Dann lässt du einfach die Partei mit den meisten Freunden gewinnen! Das sind die guten Menschen!“ „Ach, ich weiß nicht recht…“, zweifelte Justitia. „Aber denk doch mal an die viele neue Freizeit! Kein langes Grübeln mehr über Paragraphen, kein Abwägen mehr von Aussagen, keine umständliche Beweisführung! Wer die meisten Freunde hat gewinnt! Du flüsterst dem Richter die Urteile ins Ohr und kannst den ganzen Tag im Park sitzen! Und noch eins: Gute Menschen haben nicht nur viele Freunde, sie sind auch sehr spendabel. Da wäre sicher ein neues Schwert für dich drin oder auch mal eine Einladung zu einem Bankett!“ „Aber Platon hat gesagt…“, meinte Justitia schwach. Vertraulich tätschelte der Teufel Justitia‘ s Hand. „Komm Liebes, wir probieren es einfach mal aus. Nimm die Augenbinde ab, nur für einen Moment…“
Unschlüssig glitt Justitia’s Hand zu der alten Binde über ihren Augen. Vielleicht hatte der Teufel ja Recht? Es machte ihr schon lange keine Freude mehr, stundenlang Plädoyers von Anwälten zu vergleichen, Zeugenaussagen abzuwägen und Beweismittel durchzugehen…
Kurz entschlossen riss Justitia die Augenbinde herunter. Zuerst sah sie gar nichts, dann blinzelte sie in die Frühlingssonne und blickte auf den Teufel neben sich. Er trug einen schwarzen Talar und eine Aktentasche unter dem Arm, die er mit seinen langen Krallen umklammerte. „Du siehst ja aus wie die Leute bei Gericht“, sagte Justitia erstaunt, “ ich dachte, du hättest Bocksfüsse und Hörner auf dem Kopf?“ „Ach, das war früher mal“, schmunzelte der Teufel, „wir müssen doch alle mit der Zeit gehen…“
Justitia warf ihre Augenbinde in den nächsten Gulli. Ab diesem Tag gewann vor Gericht derjenige, der die größte Lobby hatte. Justitia trägt jetzt aber manchmal eine Sonnenbrille der Marke Polo, wenn sie auf ihrer Vespa durch den Wald knattert. Alles gesponsort. Man muss eben mit der Zeit gehen…